Wir haben den einzelnen Fraktionen des Stadtrates je einen Brief zukommen lassen, indem wir sie auffordern sich per Resolution auf Landesebene dafür einzusetzen, dass KEINE Abschiebungen nach Afghanistan, insbesondere aus Halle, durchgeführt werden.

Der vollständige Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Fraktion XX,

unsere Gruppe arbeitet seit mehreren Jahren intensiv zum Thema Asyl und Flüchtlinge. Dabei betreuen wir insbesondere Geflüchtete u.a. durch Asylverfahrensberatung, Einzelbegleitung und Unterstützung beim Deutschlernen.

Mit Erschrecken mussten wir feststellen, dass trotz vorliegender aktueller Berichte von internationalen Institutionen wie dem UNHCR und des Auswärtigen Amtes über die bedenkliche Sicherheitslage in Afghanistan Geflüchtete aus der Region Halle dorthin abgeschoben werden sollen.

Im Jahr 2019 gab es in Afghanistan 3.403 getötete zivile Opfer in Folge von Kampfhandlungen1. Dabei waren gewaltsame Anschläge über das Gebiet des gesamten Landes verteilt, auch in der als “sicher” geltenden Region Kabul. Darüber hinaus finden ständig Menschenrechtsverletzungen seitens regierungsfeindlicher Kräfte sowie staatlicher Akteuren statt2.

Aufgrund der prekären Sicherheitslage -vor allem für die Zivilbevölkerung- wurde einer Verlängerung des Auslandseinsatzes der Bundeswehr bereits bis Januar 2022 vom Kabinett zugestimmt3. Jedoch beschlossen die USA einen vollständigen Truppenabzug bis zum 11. September 2021, woraufhin auch die Nato bekannt gab ab dem 1. Mai 2021 mit dem Truppenabzug zu beginnen4. Verschiedene Expert:innen warnen bereits vor einer stetigen Verschlechterung der Sicherheitslage vor Ort. Eine Aufrüstung alter afghanischer Warlords ist bereits zu beobachten und ein Friedensabkommen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban scheint immer ferner5. Auch der U.S.-amerikanische Geheimdienst erwartet ein Wiedererstarken der Taliban, infolge des Truppenabzugs der NATO Kräfte6

Gerade diese aktuellen Entwicklungen zeigen, dass ein sicheres Leben in Afghanistan nicht möglich ist und innerstaatliche Schutzalternativen fehlen, sodass Abschiebungen dorthin keine Option sein dürfen.

Im Global Peace Index belegte Afghanistan im Jahr 2020 den letzten Platz7.

Der bereits knapp vier Jahrzehnte währende Konflikt dauert dort unvermindert an. In den ersten neun Monaten des Jahres 2020 verzeichnete die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 5.939 zivile Opfer, darunter 2.117 Tote und 3.822 Verwundete. Vor dem Hintergrund der Friedensgespräche haben sich die Kämpfe zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in den letzten Monaten verschärft und Hunderte von Zivilistinnen und Zivilisten getötet8. Auch Kabul kann aufgrund der nach wie vor prekären Sicherheitslage keineswegs als „interne Schutzalternative“ für Rückkehrende, die besonders gefährdet sind, nach ihrer Rückkehr Opfer von Gewalt zu werden9, bewertet werden. Der tödliche Angriff auf Studierende der Universität von Kabul durch den Islamischen Staat Anfang November 2020 ist nur einer von zahlreichen Angriffen auf die Zivilbevölkerung in der Hauptstadt in diesem Monat, die dies abermals veranschaulichen10.

Seit dem Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul im Mai 2017 konnte deren Betrieb bisher nicht wieder aufgenommen werden. Offensichtlich kann die Sicherheit der Mitarbeitenden vor Ort nicht gewährleistet werden. Wenn die Sicherheit für die Mitarbeitenden nicht gewährleistet werden kann, wie kann dann die Sicherheit der Zivilbevölkerung gewährleistet werden?

Weiterhin müssen Betroffene zur Einreise nach Deutschland (z. B. zum Zwecke der Familienzusammenführung) ein Visum bei der deutschen Botschaft in Islamabad oder Neu-Delhi beantragen. Hierdurch wird das Menschenrecht von Asylsuchenden auf Schutz des Familienlebens wesentlich erschwert11.

Zusätzlich zur schlechten Sicherheitslage ist, durch die Corona-Pandemie verstärkt, die humanitäre Lage ebenfalls verheerend. 4 von 10 Afghanen leiden an Nahrungsmangel12. Außerdem ist das Gesundheitssystem mit der pandemischen Lage überfordert13

Trotz dieser verheerenden Lage wurden allein 2018 mehr als 50 Personen aus dem Raum Halle (Saale) und Leipzig nach Afghanistan abgeschoben14. Deutschlandweit waren es bis Mitte 2019 sogar 64715.

So stellte u.a. der VGH Baden-Württemberg fest, dass insbesondere durch die COVID-19-Pandemie regelmäßig Abschiebeverbote nach Afghanistan, auch für alleinstehende junge Männer, bestehen16. Dazu das Gericht in seinen Entscheidungsgründen:

“Angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie sind auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK derzeit regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen[...]”

Deshalb fordern Wir im Namen von Amnesty International Deutschland:

  • Abschiebungen nach Afghanistan zu stoppen und
  • dass der Stadtrat sich per Resolution gegen Abschiebungen nach Afghanistan auf Landesebene ausspricht.

Zudem fordern wir folgende Maßnahmen:

Dass der Stadtrat an die Landesregierung Sachsen-Anhalt appelliert, alle Möglichkeiten zu nutzen, um Abschiebungen nach Afghanistan zu verhindern, sich nicht an Sammelabschiebungen zu beteiligen und sich bei den zuständigen Stellen des Bundes dafür einzusetzen, dass Abschiebungen nach Afghanistan bis auf weiteres ausgesetzt werden.

Gerne nehmen wir an einer Ihrer Fraktionssitzungen teil, um noch einmal über dieses Thema und die Rechtslage zu informieren.

 

Danke für Ihren Einsatz für die Menschenrechte,

gez. Amnesty International Deutschland - Hochschulgruppe Halle (Saale)

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1 Statista, Zivile Opfer in Afghanistan; Die Dunkelziffer wahrscheinlich deutlich größer.

2 UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 2018, S.26 ff. 

3 Tagesschau: Afghanistan-Einsatz bis Januar 2022

MDR, Nato beschließt Truppenabzug aus Afghanistan, 15.4.21

5 Zeit, Der Frieden scheint ferner denn je, 14.02.2021 

6 Intelligent Community Assessment, 2021 Annual Threat Assessment of the U.S. Intelligence Community, 13.04.2021

7 Institute for Economics & Peace: Global Peace Index 2020

 8 Amnesty International, „Afghanistan: Donor’s conference must prioritise human rights at critical moment” 18.11.2020

9 Friederike Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen, in: Asylmagazin, Zeitschrift für Flüchtlings-und Migrationsrecht, 8-9/2019, S.276-285.

10 Amnesty Anliegen, IMK Herbsttagung, Dezember-2020.pdf; Zeit Online, „Mindestens 22 Tote bei Angriff auf Universität in Kabul“, 02.11.2020.

11 Auswärtiges Amt, Visa in Afghanistan 

12 OCHA holds briefing on the humanitarian situation in Afghanistan

13 deutschlandfunk: Corona in Afghanistan

14 Landtag Sachsen: Abschiebungen von Flughäfen in Sachsen 2018

15 Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt und Sachsen: Abschiebungen nach Afghanistan

16 VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20

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